25. Juni 2015

Und haben geweint. Im Kino.

Klares Pro »Victoria«
Und haben geweint. Im Kino.
Dieses Pro wird einer, der es liest, womöglich nehmen für ein: Hmm, also ich weiß nicht recht. Aber Kino ist zum Hingehen und zum Schauen gemacht. Nicht zum Lesen. So hingeschrieben klingt das verrückt. Stimmt aber. Erst unlängst erklärte mir eine alte Kino-Bekannte, sie vermeide es, irgendwas über anstehende Filme zu lesen. Ein Funke genüge ihr. Und sie gehe einfach mit.

Eine Weile habe ich versucht, die Frage zu beantworten, ob ich als Frau mit solchen Typen wie Blinker, Sonne, Fuß und Boxer auch mitgegangen wäre. Vergeblich. Dann wurde ich von einer Klavier spielenden Frau in den Film gesogen. Mir stockte der Atem. Ich verwarf die Klärung von Fragen. Auf`s Ausatmen folgte Schwindel. Da sitzt eine promovierte Politik- und Medienwissenschaftlerin (erst Laia Costas zweiter Bildungsweg war Schauspiel) und drischt auf ein olles Kneipenklavier, halb fünf in der Früh. Da ist ihre Nacht noch jung. Sonne und Victoria hätten von hier aus überall hin gekonnt. Ganz gleich ob Berlins Dächer, Straßen, Betten – jeder im Saal wäre hinterher gesprungen. Regisseur Sebastian Schipper wollte das so, sprach von einem Trapez. Vielleicht von einem Reifen... und gleich würde er ihn anzünden.

Wenn Victoria sich trotzig die Tränen trocknet und ins geklaute Auto steigt, ist sie wieder da. Die Frage. Hätte ich ein vom Konservatorium verstoßenes Fräulein sein müssen, das, ohne Aussicht auf eine Karriere, aber noch jeden echten Berliner Jungen hätte beeindrucken können mit der Schönheit ihres Spiels? Um dann verrückt genug zu sein, drei daher gelaufenen Straßenkötern bei einem Banküberfall die Fahrerin zu machen? Wieder keine Antwort. Statt dessen erfüllt sich das alte Kinoversprechen. Ein Mädchen, ein Revolver und eine Nacht. Betrachtet man es bei Lichte, ist das keine große Geschichte. Drei liebenswerte Trottel, verschuldet bei einem Gangster, treffen auf ein taffes Mädchen. Was ihre Unentschlossenheit in zitternden Mut verwandelt. Aber keinesfalls etwas ändert an ihrer Liebenswürdigkeit. Und ihrer Blödheit. Eine wunderbare Idee. Nichtmal der Überfall geht schief. Alles ist bloß eine große Mutprobe. Ein Spiel. Fünfzigtausend Scheine inklusive. Aber einen Scheiß drauf, lasst uns feiern. Und ins Messer laufen.

So war auch der Plan. Regisseur Schipper suchte genau diesen wankenden Boden, den Discorausch, das Irrationale am Adrenalin, diesen Banküberfall von einem Kinofilm. Der auch nicht eine Minute anhält, um nachzudenken. Der statt dessen noch dieses neue Kinoversprechen gibt. Und einlöst. Ohne zu flunkern. Zwei Stunden zwanzig brennt der Reifen. Die Zeit im Sessel und die auf der Leinwand sind dieselbe ungeschnittene Fiktion. Und das Beste daran, Weltmeister und Olympiasieger in der Kameraverfolgung, Sturla Brandth Grøvlen, beantwortet die eingangs gestellte Frage auf seine Weise. Wäre ich mitgegangen? Dank dieser verrückten One-Take Idee und seiner atemlosen Handkamera sind wir ja alle mit gegangen. Und mit gefangen. Wurden erschossen und gehangen. Sind verblutet. Und haben geweint. Im Kino. Was will man noch?

Schipper, der seine Filme gerne bis zum Ende der Nacht laufen lässt und sie dann dort anhält, um zu schauen, wo wir denn jetzt alle stehen, darf mich gerne wieder mal einladen.
Rollo Tomasi