4. August 2016

Puh! 162 Minuten! - das sorgt für geteilte Meinungen

Meist gelobter Film der Filmkritik und in Cannes - Pro & Contra »Toni Erdmann«
Puh! 162 Minuten! - das sorgt für geteilte Meinungen
Einer der meist gelobten Filme des diesjährigen Cannes-Festivals und des Feuilletons sorgt in der Redaktion des Dresdner Kinokalenders immerhin für geteilte Meinungen.

Pro
Lieber Herr Kollege, was lese ich da „ein überaus holpriger Einstieg“ – ganz falsch – ein frischer, witziger Einstieg, wie man ihn lange nicht gesehen hat: Der Postbote klingelt und will ein Paket abgeben, Toni kommt zur Tür, geht nach kurzem Wortwechsel („ach, was der da wieder für ein Zeug bestellt hat“) wieder weg, kommt verkleidet als sein „Bruder“ zurück. Skurril und eine gute Vorbereitung auf das, was den geneigte Zuschauer erwartet. Man muss sich nur drauf einlassen!

Nächste Szenen: Er schminkt sich, verkleidet sich – brauchst du für alles Erklärungen? – ist doch egal ob gerade Fasching ist oder wie in diesem Fall der Auftritt seiner Schülertheatergruppe ansteht. Klar, im normalen Leben hat mensch seinen Job, da geht er hin, und wenn er davor/danach Leute besuchen will oder Erledigungen zu erledigen hat, legt er natürlich sein Kostüm ab. Warum? Weil man das so macht? Toni stellt das nicht nur in Frage, er liefert gleich die Antwort, die da heißt: NEIN – es geht auch anders!

Und ab nach Rumänien: In wechselnden Verklei dungen bringt er das Leben seiner Tochter gehörig durcheinander und als sie hofft, ihn endlich los zu sein, taucht er doch glatt als ein Anderer wieder auf. Zu Recht muss er sich Fragen gefallen lassen wie „hast du denn in deinem Leben noch etwas ande res vor, außer Leuten Furzkissen unterzuschieben“. Und zu Recht kann er die Antwort darauf schuldig bleiben, bis er sich – ein paar Szenen weiter – eines besorgt hat. Er ist Musiklehrer, der hier den Clown mimt, um den High-Business-People den Spiegel vorzuhalten. Sie ist die Unternehmensberaterin, die Anderen erklärt, wie ihre Firma besser wirtschaften kann bzw. wie die Welt funktioniert. Ergo trifft die Frage den falschen Adressaten. Sie sollte sie sich selbst stellen.

Und was das „deutsche Kino“ angeht: Maren Ade kommt nun einmal aus diesem Land. Sie braucht ja nicht gleicht darauf stolz zu sein, aber muss es auch nicht verleugnen. Ihr ist eine Produktion gelungen, die nicht so verkopft und belehrend daherkommt, nicht so besserwisserisch. Da bleiben durchaus noch Fragen offen: Leute, ihr müsst selbst weiterdenken! Und sie zeigt, dass auch nach Petzold und Dresen eine Generation nachwächst. Das Rad ist ja nicht neu zu erfinden. Sie hat einfach eine anarchische, erfrischend-witzige – ich wiederhole mich da gern – Komponente hinzugefügt, die man im deutschen Film sonst so noch nicht kennt und hoffentlich bald mehr sehen wird.

Ist der Film zu lang geraten? Mitnichten; gut, vielleicht etwas, ein paar Minuten. Was soll’s, bei manchen zwei-Stündern sind es 120. Was gibt’s zu kritisieren? Nichts? Doch, eine kleine Schwäche hat die Geschichte: Er kommt in ein dickes Fellkostüm gehüllt zu ihrer etwas aus dem Ruder gelaufenen Party. Später geht sie ihm auf der Straße hinterher und umarmt ihn. Eigentlich ein Zeichen des Verzeihens, des Verstehens und der Versöhnung, um dann den nächsten Job in Asien anzutreten. Hat sie nichts gelernt? Hat sie nicht genug von dieser Macht-Sex-Geld-Ausbeutungs-Maschine? Oder ist das eine geschickte Überleitung zu Teil II: Toni Erdmann in Singapur? Damit der geschätzte Kollege sein Hollywood-Kino bekommt.
TCR

Contra:
Puh! 162 Minuten bittet Regisseurin und Autorin Maren Ade um Konzentration, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, einer ungewöhnlichen Annäherung zwischen Vater und entfremdeter Tochter beizuwohnen. Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes von Publikum und Kritik bejubelt, ging die Tragikomödie der 39-jährigen Filmemacherin bei der finalen Preisverleihung zwar leer aus. Da waren die hohen Erwartungen jedoch schon geweckt.

Die erste (negative?) Überraschung beim nun erfolgten Kinobesuch: ein überaus holpriger Einstieg, beinahe dokumentarisch, auf jeden Fall aber unerwartet. Da schlürft ein älterer Herr (Peter Simonischek) mit bemaltem Gesicht von einer Adresse zur nächsten, wen er da besucht, umarmt und in Gespräche verwickelt, bleibt zunächst unklar. Auftritt Sandra Hüller alias Ines, seine Tochter, die mehr mit Telefonieren beschäftigt ist, als sich ihrer Familie zu widmen, die sie gerade in Deutschland besucht. Denn die junge Unternehmensberaterin ist beruflich in Bukarest stationiert, Stresslevel auf Maximum, immer auf Abruf, 24 Stunden lang. Eine unbedachte Bemerkung gegenüber ihrem Vater Winfried hat kurz darauf überraschende Konsequenzen: Der Alt-68er besucht sie spontan in Rumänien. Keine gute Idee, wie beide schnell feststellen. Doch statt abzureisen, macht sich Winfried als sein Alter Ego Toni Erdmann mit schiefem Gebiss, schlechtem Anzug und Perücke in Ines’ Berufsalltag breit und bringt sie so ein ums andere Mal in Verlegenheit.

Ist das amüsant? Und wie! Zudem gewährt Ade tiefe Einblicke in die kalte und von ständigen Konkurrenzkämpfen geprägte Welt kapitalistischer Unternehmenskultur, was interessant und erschreckend zugleich ist. Das alles inszenieren die Regisseurin und ihr Kameramann Patrick Orth unaufgeregt, dokumentarisch, glanzlos – oder polemisch formuliert: eben so, wie es der deutsche Film zu oft und zu gerne tut. Dass wir das können, haben Dresen, Petzold und viele andere schon zur Genüge bewiesen. Per se nichts Schlechtes. Und doch muss die Frage erlaubt sein, was zu all den Lobhudeleien für den Film geführt hat, der schon jetzt als einer der besten des Jahres gilt? Warum wird »Toni Erdmann« sogar jenen, die deutschen Produktionen eher skeptisch gegenüberstehen, als „Pflichtprogramm“ empfohlen? Denn sie werden auch hier all das wieder finden, was sie gewöhnlich fern hält: schwer zu fassende Charaktere, die zu irrationalen Handlungen neigen, schweigende Figuren statt klärende Dialoge, unbedingter Realismus im Doku-Stil statt einer gefälligen, die visuelle Ebene mit einbindenden Erzählung.

Nein, es geht nicht darum, die „deutsche Identität“ beim Film, sollte sie überhaupt existieren, zu negieren. Auch muss es nicht dieser verkrampfte Versuch im Til-Schweiger-Stil sein, sich inszenatorisch amerikanischen Vorbildern anzupassen. Wenn aber ein Film als „Sensation“, „ein Triumph“ und „außergewöhnlich“ betitelt wird, sollte er zumindest versuchen, aus bekannten Mustern auszubrechen und mehr zu sein als nur ein thematisches und optisches „Best of“ des typisch deutschen Programmkinos.
Csaba Lázár

http://tonierdmann-derfilm.de