28. September 2017

Ups, was war das denn? Kitsch oder amerikanischer Autorenfilm?

Pro & Contra »mother!«
Ups, was war das denn? Kitsch oder amerikanischer Autorenfilm?
Darren Aronofsky verfilmt sein Drehbuch mit Stars, darunter Jennifer Lawrence und Javier Bardem - Kitsch oder amerikanischer Autorenfilm? Bei Werken von Darren Aronofsky ist eines gewiss: sie spalten ihr Publikum – und die Redaktion des Kinokalender Dresden.

Pro
Die Warnungen im Vorfeld waren da: abgefahren, radikal, unerhört, sonderbar. Nicht die beste Werbung für einen Film, und doch neugierig machend. Denn wenn Darren Aronofsky (»Requiem for a Dream«, »Black Swan«) Skript und Regie verantwortet, ist’s mit der Gemütlichkeit im Kino eh vorbei. Es will schon was heißen, wenn sein mit Abstand zugänglichstes Werk »The Wrestler« ist, diese grandiose One-Man-Show von Mickey Rourke aus dem Jahre 2008. Nun also das Gegenstück, eine One-Woman-Show, ganz zugeschnitten auf seine Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence.

Die will als namenlose Protagonistin eigentlich nur die Zweisamkeit mit ihrem doppelt gehemmten Autorengatten (Javier Bardem) genießen. Doch ihr abgeschieden gelegenes Haus wird gleich mehrmals von Fremden überrannt. Während sie zunehmend damit hadert, gefällt er sich als freigiebiger Gastgeber, dem seine Besucher schon bald die Füße küssen. Was folgt, ist eine Tour de Force, die ihresgleichen sucht – für die Hauptfigur und die Zuschauer.

Erinnerungswürdig ist ein Kinobesuch immer dann, wenn er sämtliche Erwartungen negiert. Wenn während des Verlaufs absolut nichts erahnen lässt, was in den darauf folgenden fünf Minuten geschieht. Aronofsky ist dies mit »mother!« formidabel gelungen. Allerdings so gut, dass man selbst nach Filmende noch rätselt, was da eigentlich gerade passiert ist. Interpretationen gibt es wahrscheinlich unzählige, was für die einen frustrierend, für andere (Autor eingeschlossen) erfüllend sein kann.

Was also soll »mother!« sein? Eine reine Fantasie des Mannes, der die Rahmenhandlung ein- und ausführt? Ein bitterböser Kommentar auf eine chauvinistische Welt, in der Frauen aufs Putzen, Kochen und Kinder kriegen reduziert sind? Eine Abhandlung über die emotionale Achterbahnfahrt einer (Liebes-)Beziehung? Oder, und daher mit einem unübersehbaren Ausrufezeichen im Titel versehen, ein Loblied auf das weibliche Geschlecht, das Herz eines jeden Hauses, die Inspiration für Mann und Kunst, die einzige Konstante in einer Welt, die auseinander fällt?

Für all das und so viel mehr lassen sich in diesem besonderen Film reichlich Pro- und Contra-Argumente finden. Unbestreitbar jedoch ist die visuelle und vor allem auditive Kraft, die hier vom Stapel gelassen wird. Die Kameras, stets nur wenige Zentimeter von Lawrences’ Körper entfernt, hämmern die seltsamsten Geräusche auf sie und uns Zeugen des Unheils ein. Bemerkenswert auch hier das Spiel mit künstlerischen Mitteln, die lange Zeit eine ‚simple‘ Geistergeschichte erwarten lassen. Aber nein, hier geht es um Größeres, Essenzielleres, Streitbareres.

Übertreibt es Aronofsky mit seinen Gedankenspielen? Übertritt er womöglich moralische Grenzen, wenn er bestimmte Dinge bebildert, die nachhaltig verstören können? Vielleicht tut er das tatsächlich. Aber wann hat man sich nach einem Kinobesuch zuletzt solche Fragen stellen können? Csaba Lázár


Contra
Wunderkind Darren Aronofsky inszeniert einen, ja was nun eigentlich - Horrorthriller, Kunstfilm, Parabel oder religiöses Gleichnis? Egal, dass sich dieser Film einer eindeutigen Kategorie verweigert, spricht für Aronofskys Projekt. Kamera, Schauspieler, der großartige Soundtrack und die beklemmende Eröffnung erschaffen einen einzigartigen, eine großartige Vielzahl von bombastischen Assoziationsschleifen erschaffenden, spannenden Streifen. Leider verhaspelt sich Aronofsky und lässt nach 80 Minuten die hochartifizielle und packende Exposition in einer wilden, explosionsartigen Sound- und Bilderorgie implodieren. Der geneigte und auch der weniger geneigte Zuschauer verlieren sich alsbald in der monströs anmutenden Parabel.
Denn um eine solche handelt es sich zweifellos. Angesiedelt ist die Geschichte in einem alten Haus, das scheinbar nach aktuellen Maßstäben saniert, trotzdem seltsam aus der Zeit gefallen scheint. Würde nicht der erste Gast statt Bilder sein Smartphone zeigen, könnte die Handlung auch in einer nahen Vergangenheit spielen. Aber die Verortung in einem realistischen Raum-Zeit-Gefüge ist wohl nicht der Schwerpunkt des Films. Aus einer anfänglich schlichten Gretchen-Geschichte, Künstleregosimus versus einfacher, liebender Frau, bei dem er Inspiration durch das Leben, sie das traute Heim sucht, werden schnell biblische Maßstäbe. Haben wir es mit einer göttlichen Versuchsanordnung zu tun? Mit Adam und Eva und sogar noch Kain und Abel? Der Apokalypse, der göttlichen Offenbarung oder die falscher Götzenverehrung folgt? Fragen über Fragen. Streng genommen könnte auch von Kitsch die Rede sein.

Darren Aronofsky scheinen solche Einwürfe nicht zu stören. Er treibt die Handlung grenzenlos, über jegliche Spitze hinweg und schließt den Kreis. Die Eröffnungssequenz ist das Ende und nimmt den Lauf der Dinge vorweg. Das Reich Gottes ist nicht der Endpunkt der Geschichte. Jennifer Lawrence darf im Schlussbild nicht mehr verschlafen nach ihrem Dichter greifen. Die Geschichte beginnt von vorn.

Wer nicht so viel Freude an Jennifer Lawrence oder Javier Bardem hat, hat Pech gehabt, aber viel schlimmer, als einem seelenlosen Blockbuster beizuwohnen, ist es auch nicht. Beide Schauspieler zeigen eindrucksvoll, was ihre Ausnahmestellung im modernen Kinobetrieb ausmacht, vom kleinen Autorenfilm kommend, im großen Kinogeschäft bisher mit fast traumhaft sicherer Rollenauswahl zu bestehen.

Auffällig, dass für uns Europäer der Vergleich mit Lars von Trier ins Auge fällt. Wo Trier eine sehr, sehr eigenständige Sprache findet, die in vielem von Aronofsky nachempfunden wird - Kameraarbeit, radikaler Erzählansatz, große Namen -, die er aber nicht in der Trier eignen Intensität und Konsequenz umzusetzen vermag. Er kann sich dem Studiosystem Hollywoods, seiner formalen Voraussetzungen und dem Starsystem nicht entziehen. Entstanden ist so ein seltsam gespaltener, zwar auf Krawall gebürsteter aber auch dem System verpflichteter amerikanischer Autorenfilm.

Wahrscheinlich musste Darren Aronofsky nach dem unter den Erwartungen liegenden biblischen Drama »Noah« kleinere Brötchen backen. Das Studio sicherte ihm zumindest die geballte Starpower für ein vergleichsweise kleines Budget von 30 Mio Dollar (bei »Noah« durfte er noch ca. 120 Mio Dollar verpulvern) zu. Die Tatsache, dass Hollywood Platz für Kreatives jenseits der rein kommerziellen Blockbuster hat, spricht allerdings auch für das System und seine Lebendigkeit.
Mersaw

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