28. Juni 2012

„What kind of bird are you?“ - Pro und Contra »Moonrise Kingdom«

Anderson lädt ein in sein »Moonrise Kingdom«.
Während die Reise bei einigen in der Redaktion des Kinokalender Dresden für glückliche Gesichter sorgt, sind andere von dem Trip weniger begeistert. Ein Streitgespräch.

Pro:
Er hat es schon wieder getan! Nach dem erfrischenden »Der fantastische Mr. Fox« versüßt uns Regisseur Wes Anderson das Kinojahr 2012 nun mit einer entzückenden Liebesgeschichte, verpackt im hinreißenden »Moonrise Kingdom«. Und obwohl der Film bis zum Dach des Baumhauses vollgestopft ist mit unzähligen Stars der Traumfabrik (Edward Norton, Bruce Willis, Bill Murray, Frances McDormand, Tilda Swinton, Harvey Keitel, Jason Schwartzman), gelingt es dem Mann hinter der Kamera vorzüglich, das Augenmerk auf seine zwei jungen Hauptdarsteller, Kara Hayward und Jared Gilman, zu richten. Die foppen als frühreife Suzy und cleverer Sam mal eben die gesamte Erwachsenenwelt in einem Pfadfinderlager und brennen zusammen durch. Was folgt, ist eine absurd-chaotische Suchaktion voller Fallstricke auf einer kleinen Inselgruppe – und eine mies gelaunte Frau Jugendamt.

Wer sich nun entschließt, aufgrund dieser "offensichtlichen" Handlung einen Kinonachmittag mit seinem Nachwuchs in Angriff zu nehmen, sei gewarnt vor Andersons Hang zum Skurrilen. Denn das Verhalten der Kleinen ist dem kindischen Tun der Großen im Film weit überlegen. Das könnte auf dem Weg vom Kino nach Hause dazu führen, als Aufsichtsperson von seinen Kindern nicht mehr ganz ernst genommen zu werden. Denn, so zeigt es »Moonrise Kingdom« vorzüglich, während Suzy und Sam sich ganz und gar rational ihrem Leben stellen (bzw. den Hindernissen ihrer Flucht und den ersten Annäherungen beim Strandtanz), kriegen die Alten nichts auf die Reihe. So wird die Ehe von Suzys nicht minder sonderbaren Eltern nur noch von den Wänden des gemeinsamen Hauses zusammengehalten, während der dauermelancholische Sheriff durch seinen Alltag schlürft und sich zusammen mit dem überforderten Pfadfindercampleiter anhören muss, sie seien beide „die mit Abstand himmelschreiend inkompetentesten Aufseher, an die ich als Jugendamt in einer 27-jährigen Karriere das Unglück hatte zu geraten!“
Behauptet zumindest Frau Jugendamt, die das Suchchaos in der wilden Natur beenden will, dem vorausschauenden Handeln der Flüchtlinge allerdings ebenso wenig entgegenzusetzen hat wie die soeben von ihr verbal Zusammengefalteten. So erzählt Anderson in seinem märchenhaft anmutenden Werk auch von der Unfähigkeit der Erwachsenen, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, während die Kleinen genau wissen, was sie wollen und zudem fähig sind, mit einfachsten Mitteln ihren Traum zu verwirklichen.

Es macht wahnsinnig Spaß, diesem unkoordinierten Haufen von Eltern, Behörden und Wachschutz zuzusehen, die eigentlich nichts falsch machen, mit ihrer Spießigkeit hier jedoch gänzlich fehl am Platze sind – zumindest im Universum des Wes-Anderson, das auch optisch zu verzaubern weiß: Die Kamera gleitet förmlich starr durch die Szenerie, einer Bühne gleich wechseln lediglich die Orte, aber selten der Blickwinkel des Zuschauers. Alles ist voller Farben, jedes Detail mit Bedacht gewählt. Dazu eine ungewöhnliche, weil stilistisch breit gefächerte musikalische Untermalung von Alexandre Desplat, die im Abspann gleich noch mal mit einem Kommentar von Hauptakteur Sam in ihre Einzelteile zerlegt wird.

Das ist erfrischend, unkonventionell und mitunter erschreckend ehrlich. Und obendrein ein verdammt guter Film, der problemlos zwischen Komödie, Drama und Romanze hin- und herschwingt, sodass beim Zuschauen die Tränen der Rührung immer wieder von einem wiederkehrenden Schmunzeln getilgt werden. Kinobesucher, was willst Du mehr?
Csaba Lázár

Contra:
Ja, Sam und Suzy, die beiden Zwölfjährigen mit der mangelnden Impulskontrolle sind das tollste Liebespaar der Saison. Vermutlich hätten sich trotzdem nur ganz harte Wes-Anderson-Fans einen Film mit unbekannten Kinderdarstellern und wirklich erstaunlich vorhersehbarem Plot angeschaut. Aber das ist graue Theorie, denn wie immer ist bei Anderson ein Sixpack Stars mit von der Partie, was im Prinzip auch sehr okay ist. Die große Frances McDormand hat Anjelica Huston als amtierende Übermutter im Anderson-Kosmos abgelöst. Mann und Liebhaber (Bill Murray und Bruce Willis) wirken neben ihr komplett hilflos und allein gelassen - allzeit weitestgehend vergeblich auf der Suche nach einem letzten Rest flöten gegangener Manneswürde. Edward Norton wiederum gelingt es beim Pfadfindern in Khaki-Shorts und Strickstrümpfen den gleichen heiligen Ernst auszustrahlen wie beim Boxen im »Fight Club«. Und Harvey Keitel gibt sich als Edelkomparse die Ehre. Vielleicht wäre ein Cameo-Auftritt spannender gewesen, aber egal. Alle gut drauf und gut losgespielt.

Tilda Swinton, leider, ist spätestens seit Jarmuschs »The Limits of Control« auf der Leinwand nur noch als „La Swinton“ unterwegs und schafft es nicht mehr, hinter ihren Figuren zu verschwinden. Dafür sieht sie wieder sehr schön und sehr fremd aus in ihrem superblauen Kostüm vor den Indian-Summer-Farben des »Moonrise Kingdom«.
Ja, Wes Anderson macht immer richtig schöne Filme mit richtig guten Leuten. Soundtrack auch immer super. Auch diesmal eigentlich alles wunderbar, »Moonrise Kingdom« ist ein typischer Anderson, doch deutlich weniger lässig als seine Vorgänger. Es gibt reichlich skurrile Figuren in absurden Situationen vor schöner Landschaft. Aber alles ein bisschen zu ausgedacht und sehr bedeutungsschwanger. Auch darin erinnert der Film an Jarmuschs »Limits«. Bösartige würden das vielleicht gewolltes Vorzeigekino nennen.

Trotzdem ist »Moonrise Kingdom« nur im Vergleich mit anderen Anderson-Arbeiten ein schwächerer Film. Ansonsten liebenswertes, ja doch, Familienkino. Mit hohem Schmusefaktor und Ohrwurm: Francoise Hardys „Le temps de L`amour“. Und einer klaren Botschaft: Ausreißen bringt es schon. Nicht nur für den gut geschulten Pfadfinder, der weiß, wie ein perfekt aufgeschlagenes Lager geht. Weil nach dem Ausreißen dann doch alles ganz anders bleibt. Wenigstens im Film. Und wenn Sam Suzy gleich zu Anfang fragt: „What kind of bird are you?“ ist das eine Frage, die natürlich an alle geht.
Grit Dora