7. Juni 2013

Das pralle Leben oder konstruierte Werbeästhetik

Pro und Contra »The Broken Circle«
Das pralle Leben oder konstruierte Werbeästhetik
Schon wieder ist sich die Radaktion uneins - das pralle Leben, großes Gefühlskino, Musikdrama oder einfach nur konstruierte Werbeästhetik ohne Substanz?

Pro
Das Einzige, woran ich mich nach der Vorstellung erinnern konnte, waren die nette Dame mit den Taschentüchern am Eingang, das kleine Staunen, als Regisseur Felix van Groeningen und Cutter Nico Leunen mir gleich zu Beginn mein zartes Vögelchen Mut aus den Händen rissen, die Faust in der Tasche, die sich wegen trefflich umschiffter Klippen auffällig oft ballte, während ich dazu leise Ja! hauchte und nicht zuletzt der wohltuende Klang des flämischen Originals. Alles Übrige war ein rauschender Flirt mit einer unverhofften Filmschönheit. Wild tanzende Staubpartikel oder knisternder Funkenflug - ganz gleich - flandrischer Landregen und Banjo-Picking waschen alles zu einem großen Glücksgefühl, einem Taumel. Elise und Didier verlieben sich mit Haut und Haar, der stattliche Bluegrass-Sänger zottelig und die resolute Tätowiererin bunt bedruckt, beide bekommen eine zauberhafte Tochter und singen gemeinsam in seiner Band. Oh, pralles Leben! Davon handeln wundervolle Lieder, wenigstens in den ersten Strophen, und ich mag die Idee von Autor und Hauptdarsteller Johan Heldenbergh, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Jawohl, erzähl mir eine Lovestory so, wie sie zu »If I Needed You« führt. Geleite mich von den schönsten zu den traurigsten Momenten, du »Wayfaring Stranger«. Irgendwo müssen sie ja herkommen, diese Lieder.

Ebenso mag ich die konsequente Struktur der elliptisch abtropfenden Erzählung. Noch in keinem nichtlinear gestrickten Film saß ich so entspannt und gut versorgt mit allen wichtigen Details. Als die Eltern der kleinen Maybelle gleich zu Beginn mit der Leukämie-Diagnose hadern, als sie sich versprechen, nur noch daheim zu weinen, als man ahnt, dass es dieselbe Band sein wird, die auf der Taufe, der Hochzeit und der Beerdigung spielt, schließt man irgendwie einen Pakt. Verdammt ja, der Kreis zerbricht und Maybelle stirbt... Aber Leben soll sein! Drumherum. Zeigt es mir. Mit Hühnerkacke an den Füßen und blätternder Farbe im Haar. Erzählt vom Begehren, dem neuen Tattoo, von der Freude, den Vorschlaghammer zu schwingen, den Kindergeburtstagen mit Mega Mindy und von Käptn Chemos Niederlagen. Spart nicht am Unvermögen atheistischer Trauer oder dem Gift blinder Vorwürfe. Lasst Freud und Leid sich begegnen auf Augenhöhe, sodass man den eingangs geschlossenen Pakt arglos erweitert. Auch auf Elise...

Der bärtige Barde Paul Armfield warf einmal auf der kleinen Kino-Bühne vom Thalia die Frage auf; warum wir den Wert eines Lebens nach dessen Jahren berechnen. Keine Liebe bemäße sich nach der Zahl der Küsse oder die Schönheit eines Schiffes nicht nach seiner Ladung. Dieser Argumentation folgte man anstandslos, hatte er doch vorweg Kummer aus erster Hand annonciert und seine tröstliche Weise »What every Mother fears« genannt. Damals hatte man sich vage ein paar Szenen ausgemalt, die man, betitelt als „erfülltes Leben“, beim Verlust eines Kindes, eines geliebten Menschen in die Waagschale hätte werfen können... Daran musste ich den ganzen Film über denken, als mich nun die rätselhafte Veerle Beatens, die erstaunliche Nell Cattrysse und der kolossale Johan Heldenbergh lehrten, ins Hemde zu weinen. Vor Freude am Leben.
Rolli

Contra
Große Gefühle kombiniert mit tragischen Ereignissen - Kino in seiner reinen Form. Van Groeninge inszeniert souverän, ihm gelingt das Unglaubliche, ohne zusätzliche Hilfsmittel durch die Zeitebenen zu springen und den Zuschauer problemlos an der tragischen Geschichte teilhaben zu lassen. So funktioniert Erinnerung, mäandert durch Zeit und Raum. Das ist ganz großes Kino und empfiehlt Felix für größere Aufgaben.

Was ihm aber nicht gelingt, seine Geschichte zum Leben zu erwecken. Viel wird nicht verraten über die beiden Protagonisten, Bilder, knappe Andeutungen und das Spiel von Johan Heldenberg und Veerle Baetens sollen ausreichen, reichen aber nicht. Alle anderen wirken eh wie schickes Beiwerk, Typen die einer Bluegrass-Band super zu Gesicht stehen.

Unterstützt wird dieser Ansatz der Reduktion über die Musik, Emotionen und die Darstellung werden verstärkt (wobei aber öfters ein doppelter Kommentar entsteht, der störend wirkt). So bleibt es leider nur bei romantischen Schablonen zweier interessanter Typen.

Verwirrend auch die teils weit hergeholt wirkenden Einwürfe aus der realen USA. Stichwort Krieg gegen der Terror und Stammzellenforschung. Da fragt man sich, ob damit die uneingeschränkte große Leidenschaft von Didier "Amerika" kritisch hinterfragt oder welchen Wert diese Videosequenzen für den Fortgang der Geschichte oder für die Personenzeichnung haben.

In der Summe zu wenig Figurenzeichnung, zu tolle Bilder aber perfekte Windung durch den Gefühls- und Zeitstrom der Liebe ergibt aber leider ein "zu simpel". Und damit wären wir bei der Kitschfalle. Die Bilder strahlen ein zu viel an Werbeästhetik aus, zu sehr Marlboroland. Dazu spielt die Geschichte seltsam losgelöst von sozialen Realitäten - nur Musik, Amerika und große Gefühle. Das reicht dann wohl doch nicht, das ist eine Spur zu simpel und zu schick, man könnte auch sagen Kitsch.
Aber wie sagt Elise als sie Didier ihre Vogelaufkleber zeigt: "Für alles im Leben gibt es eine Lösung". Im Film ja, das wirklich tragische ist aber, im Leben leider nicht immer…
Mersaw

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